Seit den 1970er Jahren beginnt sich in der postmodernen Massenkonsum- und Egoartikulationsgesellschaft eine den Deutschen in ganz besonderer Weise nicht nur zugeschriebene, sondern bis heute weithin praktizierte Praxis – je nach Perspektive Tugend oder Makel – stark zu verändern: die Sparsamkeit.
In dieser Veränderung spiegeln sich tiefgreifende Prozesse des sozialen und kulturellen Wandels in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die nur vor dem Hintergrund der Geschichte der Massenkonsumgesellschaft mentalitäts- und sozialgeschichtlich eingeordnet werden können. Diese Veränderungen im Umgang mit der Erfahrung und Deutung und Rationalisierung von Knappheit werden im individuellen Verhalten mit kontextbedingten Unterschieden zwischen einer vollentwickelten Postknappheitsgesellschaft in der Bundesrepublik und einer realsozialistischen Mangelwirtschaft in der DDR auf sehr unterschiedliche Weise, aber gleichermaßen sichtbar. Das ist vor dem Hintergrund einer geteilten deutschen Gesellschaftsgeschichte einschließlich der Mobilisierung für das nationalsozialistische Projekt nicht erstaunlich.
Von besonderem Interesse ist vielmehr die Frage nach den Mechanismen, die eine in West und Ost gleichermaßen als grundlegend anerkannte und wertgeschätzte soziale Haltung, die Sparsamkeitstugend, soweit entplausibilisieren konnten, dass nicht mehr von einer explizit oder implizit verbindlichen sozialen Norm die Rede sein kann. Ein historischer Blick auf die sozialen Konstruktionen der Sparsamkeit muss drei sich mit der Gesellschaft wandelnde Maßstäbe berücksichtigen: objektive Notwendigkeit, subjektive Praxis und kollektive Haltung. Der Blick auf die wertvermittelnden sozialen und medialen Instanzen hat dabei nicht die sozialmoralische Funktion, Hedonismus und Selbstbeschränkung als unvereinbare Gegensätze gegenüberzustellen. Es geht vielmehr um die Beobachtung einer Werteverschiebung in der Tiefe einer gesellschaftlichen Praxis. Diese hat für den Satz "Spare in der Zeit, dann hast du in der Not" kein Verständnis mehr. Ihre Kreativität liegt nicht in der Entwicklung vielfältiger Strategien des Sparens, sondern in der Abschaffung von Not für manche.
Die Ausgangsbedingungen um 1945 sind für die deutsche Zusammenbruchsgesellschaft trotz einer sich schnell entwickelnden Pfadverschiedenheit in der Entwicklung der Besatzungszonen noch dieselben. Für das Überleben und den elementaren materiellen Neuanfang gab es zum Sparen keine Alternative. Hier ging es zunächst um eine Sparsamkeit ohne das Ziel, sich später etwas leisten zu können. Das änderte sich allerdings ab 1950 in Westen unter marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen in der Wiederaufbaugesellschaft erstaunlich schnell. Sparen konnte sich nun auf konkrete Ziele der materiellen Partizipation richten: nach der „Fresswelle“ kam das Motorrad und schließlich auch der Volkswagen „Standard“. Die größten Veränderungen sind ab 1970 in der „Wegwerfgesellschaft“ der Bundesrepublik und verhaltener in der agonalen Bedarfsdeckungsökonomie der DDR zu beobachten. Zum ersten Mal in der Sozialgeschichte der deutschen Konsumgesellschaft wird im Westen die Vorstellung einer Abschaffung von Knappheit Realität: sich etwas leisten zu können, ohne zu sparen. Genau zu diesem Zeitpunkt macht der Club of Rome-Bericht von 1972 die ,Grenzen des Wachstums‘ zum globalen Thema.
Der historische Essay hat drei Teile. Er beschreibt den mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Wandel hin zur Konsumgesellschaft seit den 1950er als Hintergrund für die Veränderungen in den Einstellungen gegenüber verschiedenen Konsumfeldern, die um 1970 wirksam und sichtbar werden. Am Ende steht die Reflexion der Frage, wie eine Postmassenkonsumgesellschaft vor dem Hintergrund der sparsamkeitsgeschichtlichen Erfahrungen aussehen könnte.
Abb.: Das Sparschwein. Ein besonders deutsches Artefakt. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Piggy_bank2.jpg [18.04.2023]; Attribution gemeinfreies Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Piggy_bank2.jpg.